Geopolitik oder Glaubenskrieg?

23. OKTOBER 2023 / WALTER TAUBER


Ein Soldat springt von der Heckrampe eines Schützenpanzers in eine Kuhle. Eine Mine explodiert, der Soldat stürzt, windet sich vor Schmerz. Ich höre nichts, die Aufnahme der Drohne ist stumm. Ich denke an die Minenkunde in der Rekrutenschule, als ich zum Panzergrenadier ausgebildet wurde. Personenminen seien ganz toll, meinte der Leutnant damals. Es sei viel besser, einem Feind Fuß oder Bein abzureißen als ihn zu töten. Dann müsse er abtransportiert werden und belaste die Logistik.

Vielleicht war das der erste Anstoß, weshalb ich später den Dienst verweigerte. Wie über Waffen, Offensiven und über Töten schlechthin gesprochen und geschrieben wurde und wird, ist erschreckend. Konsequenzen werden unterdrückt. Nein, schlimmer: sie werden selektiv und einseitig beschrieben und nur dann verschwiegen, wenn es passt.

Nun bin ich keineswegs gegen Sachlichkeit. Im Gegenteil. Aber die Distanziertheit, mit der Waffen und Kämpfe dargestellt werden, geht einher mit einem konstanten Plärren über die Opfer auf der Seite, die man als die eigene auserkoren hat. Es ist Schizophren. Die Technik wird losgelöst vom Ganzen betrachtet, Bomben werden “intelligent” und Waffensysteme werden zu Erlösern oder “Gamechangern”, die auch die mieseste Lage umkehren sollen. Dafür wird mit rührseligen Darstellungen der Opfer der letzte Tropfen Mitgefühl aus Leser, Hörer oder Zuschauer gepresst. Bin ich zynisch? Nein. Ganz im Gegenteil: Die Solidarität, mit der sich die Fahnenschwinger brüsten, ist dagegen abgrundtief menschenverachtend. Dazu komme ich noch.

Ich plädiere keinesfalls für Emotionslosigkeit. Nur wer fühlt kann angesichts des Grauens seine Menschlichkeit wahren. Wenn Emotionen aber zum selbstverliebten Streicheln seiner selbst oder zum propagandistischen Ritual verkommen, sind sie wertlos.

Schon 1980 haben sich Teilnehmer an einem Lateinamerika-Treffen in Berlin geärgert, weil ich den Vortrag des Kollegen Leo Gabriel über die Militärdiktatur in Guatemala in der Debatte verteidigt habe. Wo bleibe die Betroffenheit, warf man uns vor. Inzwischen bin ich überzeugt, dass der “Betroffenheit-Journalismus” die erste Stufe zur Entmenschlichung des politischen Diskurses ist. Wenn meine Gefühle zum Zentrum des Geschehens werden, verliere ich den Blick auf das Leiden der anderen.

Ja, wir müssen mit Gefühlen arbeiten, das habe ich als Journalist lange genug praktiziert. Wir erzählen schließlich Geschichten (Neudeutsch “Storytelling”). Und Geschichten regen unsere Emotionen an und erklären uns die Welt.

Seit einigen Jahren geschieht aber Seltsames. Je mehr die Fingerfertigkeit steigt, sei es in der Wortakrobatik im Text oder die Bildauswahl und Moderation im Video, und je schneller alles wird durch die technischen Rahmenbedingungen, umso mehr flachen die Inhalte ab. Dabei verstärkt sich die ich-bezogene Emotionalisierung. Geht es wirklich noch um die Subjekte der Handlung, um die Opfer von Natur oder menschlicher Grausamkeit? Oder geht es nunmehr vor allem noch darum, was ich dazu empfinde und sage?

Ein Kolumne von Thomas Fischer vermittelt, was ich meine: “Das Gefühl als solches, so sagt uns die Psychologie, ist niemals falsch, sondern immer wahr. Es könnte zwar auf einer subjektiven Störung oder einer objektiven Lüge beruhen, aber beides ändert in einer Welt der »Authentizitäts«-Kommunikation am Ende doch deprimierend wenig.” (Link Fischer/Spiegel)

So erklärt sich, dass heute Korrespondenten mit unprofessioneller aber hoch emotionalisierter Berichterstattung davonkommen. Nun will ich keineswegs wie ein schlecht gelaunter Rentner lamentieren, dass “früher alles besser” gewesen sei. Aber ich kann es nicht vermeiden, bei fast jedem Radio- oder TV-Bericht über den Krieg in der Ukraine geradezu schmerzhaft kognitive Dissonanz zu empfinden.

Seine Sympathien kann man nicht unterdrücken und sollte sie auch nicht leugnen. Ich muss wissen, wo ich stehe, wenn ich meine journalistische Professionalität wahren möchte. Ich muss mir bewusst sein, was meine Sympathien und Antipathien bewirken in meinen Einschätzungen. Das gilt heute nicht mehr. Die Kollegen sehen alles durch einen Filter von “gut gegen böse”. Und sie erheben sich dabei selbstverständlich auf die Ebene des Guten. Dies wiederum gibt ihnen die Möglichkeit, alles, was nicht in ihr Narrativ passt, auszublenden als Propaganda der gegnerischen Seite. Was nicht sein darf, ist nicht: Hauptgrundsatz des modernen Journalismus.

Da gibt es einen merkwürdigen Raum genannt “whataboutism” in dem sich Disputierende Vorwürfe an den Kopf schmeissen. Warum wurde etwa der Irakkrieg nie “völkerrechtswidriger Angriffskrieg” genannt? Beschämend wird es auf hohem Niveau, wenn angesehene Historiker wie Timothy Snyder partout zu beweisen suchen, dass Stalin eben doch schlimmer war als Hitler und dass sich daraus die gegenwärtige Politik Russlands ableiten lasse (so ungefähr, ich vereinfache hier – zu Snyder Link Geschichtsklitterung Snyder. Mit “whataboutism” (auch gesteigert zu “bothsideism”) soll ein Thema beiseite geschoben, der Debatte entzogen werden. Kläglich.

Berichterstatter etablieren sich auf dem hohen Ross moralischer Überlegenheit, um alles so zu erklären, wie es am besten in ihr Weltbild passt. Von Analyse, also vom behutsamen Fortschreiten von Beobachtung über Hypothese zu einem vernünftigen Fazit, keine Spur. Was passt wird übernommen, was nicht, ignoriert oder als “Russische Propaganda” vom Tisch gefegt.

Das Unwohlsein bei der Aufnahme von Nachrichtensendungen aller Art, die kognitive Dissonanz also, brachte mich dazu, immer mehr über den Krieg in der Ukraine zu lesen, nachzudenken, dann auch zu schreiben auf meinem eher selten benutzen Blog (er heißt “Durchgeknallt” weil ich dem Kollegen, der mich dazu aufforderte und ihn für mich einrichtete, damals erklärte, dass sei meine Ansicht über die Welt von heute. Die Ansicht hat sich nicht verändert).

Zur enormen Fülle von Material über Vorgeschichte und Ablauf des Ukraine-Krieges will ich hier nichts Neues beitragen. Aber ein paar Quellen anführen, die vom Mainstream missachtet werden. Ich möchte vor allem versuchen, zu verstehen, warum die Leute so reagieren, wie sie es tun.

Leben auf einem anderen Planeten

Meine persönlichen Erfahrungen in der Debatte machen mir zu schaffen. Ich denke, dass viele auf ähnliche Reaktionen stoßen. Denn öfters höre ich Klagen, man könne im direkten Umfeld nicht mehr reden. Das ist fatal. Und so hoffe ich hier, einige Grundzüge dieser so vom Affekt geleiteten Debatte aufzeichnen zu können – zumindest die aus meiner Erfahrung.

Zahlreiche Kollegen in meinem Alter pflichten mir bei, ohne weiter auf meine Texte einzugehen. Jüngere antworten dagegen oft scharf, weisen mich ab als Putinversteher (oder Troll oder schlimmer). Wir würden auf verschiedenen Planeten leben, sagt mir ein alter Freund, Rentner wie ich, der ein Berufsleben im ÖRR verbrachte. Das ist OK. Was soll man streiten? Eine alte Freundschaft ist sehr viel wichtiger. Also machen wir eine Flasche Wein auf und reden über anderes. Wer vergisst, das Schöne im Leben zu genießen, riskiert, die Erdung zu verlieren.

Bei den “Anti-Putinverstehern” ist die verbreitetste Reaktion, einfach weg zu schauen. Ihr Widerspruch ist pauschal, ich höre gereizte Sätze wie “ich kenne Ukrainer” oder gar “meine Putzfrau ist aus der Ukraine”. Als wären das Garantien für eine erstklassige Quellenlage. Argumente fehlen. Da ist mir das schlichte “ich sehe das anders” lieber. Man muss nicht mit jeder oder jedem gleicher Meinung sein oder alles ausdiskutieren. Ich respektiere jede Meinung, auch wenn ich sie nicht teile. Und ich will vor allem nicht missionieren: Ich sehe es nicht als meine Aufgabe, andere von meiner Ansicht zu überzeugen. Debatte aber ist mir wichtig für das eigene Verständnis (in meinem Wohnort haben wir einen “Gesprächskreis Nachdenkseiten” gegründet, um der ständigen Überflutung durch die Mainstream Medien besser zu widerstehen: Link Gesprächskreis.

Einige Kollegen haben mir scharf widersprochen. Die nehme ich ernst. Denn anders als all die Dampfplauderer, die unsere TV-Landschaft und das Internet verseuchen, ist mir klar, dass ich die Weisheit nicht gefressen habe und jedes Gegenargument prüfen muss. Die könnten ja Recht haben. Daraus folgt sehr viel Arbeit.

Eine seit Jahren befreundete Kollegin etwa ist “entsetzt” über meinen Blogbeitrag. Mag sein. Mit Gefühl reagieren ist nicht falsch. Aber dann sollte man sich bewusst werden, dass Emotionen rationales Abwägen nur schwächen. Also erst einmal durchatmen. Ich bin nicht gefühlskalt, wenn ich meinen Ärger oder gar Abscheu vor den Bildern des Krieges – aller Kriege – zügele.

Die entsetzte Kollegin wirft in ihrer Mail eine sehr wichtige Frage auf: Sie wirft mir vor, Meinung und Fakt zu vermischen. Es sei aber zu aufwändig, meine Quellen alle nachzuprüfen. Nun, ich habe das getan und finde nichts, das “nicht nachvollziehbar” wäre. Da sind etliche Bücher von Akademikern, Diplomaten und Journalisten, die sich seit Jahren mit der Materie befassen. Und keine einzige Quelle, die man auch nur annähernd als russische Propaganda bezeichnen könnte.

Grundsätzlich habe ich mich schon einmal mit dieser Frage befasst: “Vielleicht sollten wir uns überlegen, was eine Beweisführung in den Sozialwissenschaften, wie im Journalismus, überhaupt ist. “ Das führe ich aus im Abschnitt “Intermezzo” in diesem Blogbeitrag (wo es über anderes ging): Link Blogbeitrag.

Wir können leider nicht, wie in den exakten Wissenschaften, mit Messgeräten und replizierbaren Experimenten unsere Hypothesen überprüfen. Der Nachweis für Thesen in der Politik kommt erst hinterher, wenn ein Vorgang, sei er Krieg, Wahl oder Verhandlung, zu Ende geht (dazu gleich mehr zum Thema Krieg).

Wir sind immer geprägt von unserer Erziehung, unseren Vorurteilen, von unserem Umfeld – und vor allem konditioniert durch die ständige Berieselung durch die Medien. Es gibt, ob wir das mögen oder nicht, eine “Mehrheitsmeinung” oder vorherrschendes Narrativ. Und wir sollten uns immer bewußt sein, wie sehr dies uns beeinflussen kann (dazu das wichtige Buch von Jonas Tögel: Link Tögel.

Gerade, wenn wir uns nicht intensiv mit einer Sache befassen, kann es gefährlich werden. Die schon zitierte Kollegin möchte “einen Nachweis dafür, dass die USA Europa kleinkriegen wollen.” Da erkenne ich im Hintergrund den Mainstream, denn dies ist nicht ein Thema, das sie intensiv beschäftigt. Und der Mainstream betont immer wieder, dass wir Alliierte der USA sind, sogar Freunde. Solange Europa braver Juniorpartner in dem Bündnis blieb, mochte das stimmen. Aber als Europa zu einem wirtschaftlichen Konkurrenten heranwuchs, der drohte, seinen Vormund zu überflügeln, wurde es kritisch. Hier ist nicht der Platz, um tiefer darauf einzugehen. Im Netz sind unzählige Quellen. Ein Einzelerlebnis, das sehr gut darlegt, wie rücksichtslos der Wirtschaftskrieg der USA gegen alle Konkurrenten geführt wird, ist der Bericht des französischen Alstom-Managers Frédéric Pierucci (Link Pierucci Buch – Englische Ausgabe, auch im original Französisch zu finden). Das Buch liest sich wie ein Krimi.

Ein paar Punkte kommen immer wieder auf, bei denen man den Reduktionismus erkennt, der die Debatte von der Geopolitik zum Glaubenskrieg macht. Zu behaupten, dass der Putsch von 2014 nur vom “Blickwinkel” abhänge, beweist Unkenntnis der Vorgänge. Die Vorfinanzierung durch US-Stiftungen, der Einsatz von Scharfschützen und die Weigerung der Kiewer Justiz, die Vorfälle zu untersuchen sind nur die wichtigsten Hinweise auf eine Intervention. Die Nachforschungen des Historikers Ivan Katchanovski zum Beispiel werden ignoriert von allen, die einen Putsch aus ideologischen Gründen ausschließen (https://en.wikipedia.org/wiki/Ivan_Katchanovski).

Auch die Rolle der Ukrainischen Nazis wird als Glaubenssache dargestellt, die Tatsachen ignoriert. Natürlich nutzt die russische Propaganda das Thema aus. Aber nur, weil es auch sehr viel gibt, das sie ausnutzten kann. Hier ist nicht der Platz, um das alles aufzurollen. Es gibt genügend Material im Netz. Niemand behauptet ernsthaft, dass “die Ukrainer” Nazis sind. Tatsache ist aber, dass sie in der Regierung nach dem Putsch und vor allem in den Sicherheitskräften eine wichtige Rolle spielten. Poroschenko griff im Bürgerkrieg gegen de Donbass auf die Azow Brigade zurück, weil zu viele reguläre Truppen (meist lokal erhobene Soldaten im Militärdienst) zu den Aufständischen übergelaufen waren.

Traurig ist die Entwicklung der Presse zum Thema Nazis. Bis 2014 war die rechtsextreme Gefahr in den Medien Fakt. Auch die einst von mir geschätzte WDR-Sendung Monitor sprach klare Worte dazu. Aber dann wurde die Geschichte allmählich abgeschwächt, die Bezeichnung Nazi verschwand, bis die New York Times sogar ein Heldenepos schrieb über die mit Hakenkreuzen und SS-Symbolen geschmückten Azow-Truppen, die sich in Mariupol ergaben.

Inzwischen ist die Geschichte der ukrainischen Nazis, die ihren Ursprung im 2. Weltkrieg hatten und nach der Niederlage Deutschlands von den Briten und US-Amerikanern gefördert wurden, gut beschrieben worden. Der Skandal um die Ehrung des Nazis Jaroslaw Hunka in Kanada hat viel zur Aufklärung beigetragen (https://www.jungewelt.de/artikel/459816.geschichtspolitik-protest-gegen-naziehrung.html)

Dampfplauderer

Ein anderer, von mir trotz politischer Differenzen sehr geschätzter Kollege, schreibt mir schlicht “Meine Antwort” mit einem Link zu einem Aufsatz von Herfried Münkler. Mein Kommentar dazu ist lange, ich füge ihn unten als Anhang bei. Hier ein Auszug aus dem Einstieg:

„Münkler hat ein Ziel: Putin und Erdogan, den er putzigerweise “kleiner Bruder von Putin” nennt, definiert er als “Revisionisten” – meint aber Imperialisten. Da dies schwer zu beweisen ist, greift er zum bei Russland-Gegnern populären Begriff “imperiale Phantomschmerzen” als Ursprung des von ihm erkannten expansiven Drangs. Dann verfällt er in die heute so beliebte Psychologisierung Putins als weiteren Beweis für Imperialismus: Putin “gerät förmlich in Erregung, wenn er an Katharina die Große zurückdenkt.” Was das genau heißen soll erfahren wir nicht. Putins Erregung – ein seltsames Bild.“

Der Schweizer Oberst Jacques Baud (Interviews und Bücher im Netz) klagt, dass wir (d.h. der Westen) Putin gar nicht zuhören. Wir dichten Putin Absichten zu, die er nie ausgesprochen hat. Wir blasen die Tatsache auf, dass Putin KGB-Beamter war, unterschlagen aber die, dass er Jurist ist. Angeblich ein ziemlich pingeliger, was seine (inzwischen wahrscheinlich verlorene) Sympathie für Deutschland erklären könnte. Putin hat Sicherheit für sein Land und für die Russen der Ostukraine verlangt. Der Vertrag Minsk II sollte dem Donbass Autonomie in einem Bund bringen, nicht Unabhängigkeit. Nur die westlichen Medien haben gleich von Imperialismus und Separatisten schwadroniert. Entnazifizierung meinte Putin wörtlich – die Nazis in Militär und Sicherheitsapparat sollten entmachtet werden. Und Entmilitarisierung bedeutete und bedeutet genau das: Verzicht auf die NATO und Zerstörung des vor allem von den USA aufgebauten Militärapparates.

Wenn Putin Referenden organisiert, wird denen hier mit einem Schwall der Entrüstung begegnet. Korrespondenten in Moskau berichten, die Stimmabgabe erfolge unter Waffengewalt. Dass der Donbass seit acht Jahren im Krieg stand und dass Soldaten vor Wahllokalen nicht unbedingt eine Bedrohung darstellen, kommentierte niemand. Dafür wurden Beobachter wie Patrick Baab, der sich die Mühe machte, in den Donbass zu fahren, nach ihrer Rückkehr verfolgt. Berufsverbot für alle, die dem vorherrschenden Narrativ nicht folgen? Und warum wird Hubert Seipel, der zwei Bücher über Putin geschrieben hat, nie zu Talkshows eingeladen? (Hier ein Interview auf YouTube ein Jahr nach Kriegsbeginn in dem er Ursprung und Lage gut zusammenfasst: Link Interview Seipel.

Erschreckend ist, wenn ich mir einen emotionalen Zwischenruf erlauben darf, wie der Journalismus verkommen ist zu einem Sprachrohr der herrschenden Mächte. Einst angesehene Sendungen wie Tagesschau oder Heute Journal pusten vielfach Propaganda. Das ist jetzt nur meine Meinung, klar. Für eine systematische Analyse fehlen mir Zeit und Lust. Wer das weiterverfolgen möchte, findet z.B. auf den Nachdenkseiten viel Material zur Einseitigkeit von ARD und ZDF. Patrick Baab wurde Opfer der „Zensur- und Denunziationsöffentlichkeit”, die heute vorherrscht und meint: “Der Journalismus taugt nicht mehr als Informationsquelle” (Link Nachdenkseiten / Baab).

Ein zweiter Bereich ist genauso infiziert vom Russenhass wie der Journalismus (dazu sehr gut Hannes Hofbauer, Feindbild Russland (Link Buch Hofbauer). Akademiker scheinen geradezu besessen vom Willen, den Beelzebub in der Form Putins auszutreiben. Eine langjährige Freundin schickt mir ein Video von Klaus Gestwa, Professor in Tübingen, der behauptet, in acht Thesen die Behauptungen Putins widerlegen zu können.

Fehlanzeige: Das Machwerk des Professors, das von T-online in die Mediathek der Bundeszentrale für Politische Bildung gewandert ist (Link Video Gestwa) ist so oberflächlich, dass ich mich nicht dazu bringen konnte, so darauf einzugehen wie bei Münkler. Dramaturgisch geschickt setzt sich Gestwa daran, „Mythen zu entlarven“ (nachdem er sich als „Experten“ eingeführt hat). Es folgt einer Argumentation, die banaler nicht sein könnte. Eine „These“ von den acht genügt, um die inzwischen übliche Selektion und Verdrehung der Tatsachen zu erkennen.

Die NATO Osterweiterung sei kein Grund für russische Besorgnis gewesen, nur Ausrede. Als Beweis führt Gestwa einen völlig nebensächlichen Punkt auf: Die “Anzahl Truppen”, die von der NATO im Osten aufgestellt worden sei, habe die erklärte Obergrenze nie überschritten. Dabei unterschlägt er bewußt (denn als Professor müsste er das doch alles wissen), die bedeutenden Punkte, die für Russland eine “rote Linie” waren. Zunächst bauten die USA die Verträge zur Abrüstung, die unter Reagan initiiert wurden, in kurzer Zeit wieder ab. Dann stationierten sie in Rumänien und in Polen Aegis Abschussrampen. Das als Abfang-Lenkwaffe konzipierte System wurde weiterentwickelt von den Flugabwehr Raketen der US Navy (damit schoss die USS Vincennes 1988 im Golf eine Iran Air Passagiermaschine ab). Besonders an der Aegis ist, dass sie aus Containern abgeschossen wird. Für die Satellitenüberwachung ist also nicht erkennbar, welcher Raketentyp gerade geladen wurde. Es können auch Marschflugkörper mit Atomsprengköpfen sein. Atomwaffenfähige Lenkwaffen nur sieben Flugminuten von Moskau – das ist ebenso wenig zumutbar wie es die Mittelstreckenraketen auf Kuba waren.

Schon lang davor hatten US-Diplomaten und Politologen wie Jack Matlock, John J. Mearsheimer, Henry Kissinger u.v.a. vor der NATO Osterweiterung gewarnt. Dazu auch zahlreiche Interviews von Jeffrey Sachs (Wirtschaftsprofessor in Columbia, etwa: Link Video SachsK5VJQHaTk. Sehr erhellend ist das kurze Buch von Benjamin Abelow: Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte (Bild unten engl. Ausgabe, auch Deutsch im Netz). Die Quellenlage ist so, dass es entweder höchst fahrlässig oder höchst manipulativ ist, wenn ein Akademiker das alles schlicht ignoriert.

Es gibt auch mindere Beispiele aus der akademischen Welt, die sich durch Russophobie hervortun. So etwa Franziska Davies, die stolz ihre blau-gelbe Kriegsfahne als Schal oder auf Schmuck trägt. Davies hetzt etwa systematisch gegen die erfahrene TV-Journalistin, ehemalige Moskauer Korrespondentin der ARD und Autorin Gabriele Krone-Schmalz. Anstatt die Debatte zu suchen, um ihren Glauben zu verteidigen (ich sage bewußt Glauben, denn ganz rational ist das alles längst nicht mehr), versuchen Davies und ihresgleichen jede und jeden, der ihre Kriegsbegeisterung nicht teilt, mundtot zu machen. Gehen ihnen etwa die Argumente aus? Sind sie so unsicher in ihrem Glauben, dass sie Widerrede nicht ertragen? Oder halten sie das Publikum für so unreif oder gar dumm, dass es, wie ein Kind durch Pornographie, gefährdet werden könnte, wenn es einen Vortrag von Frau Krone-Schmalz anhört? Ich lese Davies nicht mehr, sie hat mich auf Twitter geblockt.

Auch Kollegen, die nicht stramm auf der gewünschten Spur fahren, greifen die militanten Ukraine-Fans an: Ulrike Guérot etwa, Johannes Varwick oder Richard David Precht und Harald Welzer. Autoren verlieren ihre Verlage, Dozenten wie Patrick Baab ihre Lehrstellen. Und wenn alle Stricke reißen, greifen die eifrigen Glaubenshüter zurück auf das primitivste aller Anschuldigungen: Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer werden nach ihrer erfolgreichen Demo in Berlin in die Nähe von Nazis gerückt (ihr Manifest für den Frieden haben inzwischen fast 900’000 Menschen unterschrieben).

Die in einer Demokratie selbstverständliche Debattenkultur ist verschwunden, wir leben in einem Zeitalter der Hexenverbrennung. Die Inquisition rückt näher – vielleicht bald in der Form einer von der EU-Kommission geplanten Zensur des Internets.

Zynische Solidarität

Zum Kriegsverlauf sind Ignoranz, Widersprüche und Vorurteile der Russophoben besonders krass zu erkennen. Obwohl es sich hier um ein weitgehend technisches Thema handelt, fühlt sich jeder Schreibtischtäter dazu berufen, über Taktik und Strategie zu schwadronieren. Sie gehen dabei von einer axiomatisch festgelegten, rein ideologischen Position aus, die lautet: „Die Ukraine muss gewinnen“.

Wer „muss“ sagt ist dann auch bereit, die Realität nur durch die Brille zu betrachten, die sein Weltbild bestätigt. Da werden ohne Zutun von Wissen oder Überlegung Fundamente der Debatte festgelegt, die alles weitere bedingen. „Putin der Imperialist“ ist ein solcher Grundstein. Dass es dafür keine Beweise gibt, dass die Jahre schlicht vergessen werden, in denen Putin Annäherung an Europa bis hin zur möglichen Mitgliedschaft in der NATO versuchte, wird unter den Teppich gefegt.

Auch der angebliche Genozid Russlands gegen die Ukraine ist so ein Grundstein. Militärexperten und unverdächtige Quellen wie OSZE oder Uno zeigen, dass dieser Krieg im Vergleich zu den vorhergehenden Angriffskriegen im Irak oder in Libyen erstaunlich wenig zivile Opfer aufweist. Trotzdem berichten Russenhasser stur weiter über den angeblichen Völkermord. Kein Wunder, dass man allmählich das Vertrauen in die Berichterstatter verliert.

Die verzerrte, ideologische Sichtweise vernebelt den Blick auf den Verlauf des Krieges. So wird immer wieder faktenfrei behauptet, diese oder jene Waffe würde eine definitive Wende bringen. Wenn das nicht gelingt, etwa beim traurigen Schicksal der vielgerühmten Leo Panzer, dann wird ein neuer „Gamechanger“ gefunden. In Deutschland ist es besonders krass. Während in den USA längst Zweifel publiziert werden über einen möglichen Sieg der Ukraine und einige Kommentatoren sogar deren unvermeidliche Niederlage lamentieren, wird hier stur der Glaube an den Endsieg Kiews propagiert.

Es gab von Anfang an Militärs, die eine rationale Sicht boten. Die deutschen Generäle Erich Vad und Harald Kujat etwa, der Schweizer Oberst Jacques Baud, oder die ehemaligen US-Militärs Oberst Douglas McGregor (einst Panzerkommandeur), Scott Ritter oder Brian Berletic (beide ex-US Marine Corps). Auch ehemalige CIA-Beamte wie Ray McGovern und Larry Johnson geben ein differenziertes Bild des Krieges.

Dass die Ukraine strategisch nie gegen Russland gewinnen kann, hätte man wissen sollen. Dass die angeblichen Siege der Ukraine in Charkiv und Cherson im letzten Jahr ein Rückzug des damals weit überspannten russischen Heeres waren, mochten die Schreibtischgeneräle nicht analysieren. Sieg und Rückeroberung und der Zerfall der Russen waren die euphorischen Losungen. Und so spornte man Kiew immer weiter an, bis zum Endsieg durchzuhalten. Sie sollen kämpfen bis zum allerletzten Ukrainer, wie es die Kritiker des Stellvertreterkrieges schon immer sagten. Sogar heute, wo die Kriegsherren im Westen, von US-Politikern bis zu NATO-Chef Stoltenberg offen zugeben, dass die NATO Erweiterung Russland in den Krieg trieb und dass dieser schon 2014 anfing, hetzen die Bellizisten in deutschen Redaktionsstuben weiter. Beschämend. US-Politiker prahlen damit, wie „effizient“ dieser Krieg doch sei, Russland werde geschwächt, ohne dass ein US-Soldat sterben müsse. Sogar die niederländische Verteidigungsministerin freute sich ganz pervers über den „billigen Krieg zur Schwächung Russlands“.

Was heute als „Solidarität“ mit der Ukraine durchgeht ist grausame Aufforderung zum Massaker. Eine Generation wird geopfert – bald eine halbe Million Tote sind es. Und Amputierte wie seit dem 1. Weltkrieg nicht mehr. Ihr Opfer ist ebenso sinnlos wie das der europäischen Jugend, die in den Schützengräben von Flandern zerfleischt wurde. Daran sollten wir denken, bevor wir uns moralische Gütesiegel ans Revers pinnen und blau-gelbe Fahnen schwenken.

Der Wille zum Kampf kann aus tiefen Gefühlen stammen. Die Aufforderung an andere, zu kämpfen und zu sterben, ist nur feige.

History arises as the interpretation and misinterpretation of passion.”

Mark Helperin, A Soldier of the Great War

 

A N H A N G

Logische Bretzel:

Wie Herfried Münkler den bösen Imperialismus entlarvt.

Link Münkler

Geopolitik schon im Untertitel – das ist begrüßenswert. Auch beweist der emeritierte Professor ohne Zweifel historische Kenntnis. Wie sein Rückblick bis zum Westfälischen Frieden zur gegenwärtigen Debatte beitragen soll bleibt leider unersichtlich. Dem vielversprechenden Untertitel folgt wenig, das unseren Hunger nach geopolitischer Analyse sättigen könnte.

Münkler hat ein Ziel: Putin und Erdogan, den er putzigerweise “kleiner Bruder von Putin” nennt, definiert er als “Revisionisten” – meint aber Imperialisten. Da dies schwer zu beweisen ist, greift er zum bei Russland-Gegnern populären Begriff “imperiale Phantomschmerzen” als Ursprung des von ihm erkannten expansiven Drangs. Dann verfällt er in die heute so beliebte Psychologisierung Putins als weiteren Beweis für Imperialismus: Putin “gerät förmlich in Erregung, wenn er an Katharina die Große zurückdenkt.” Was das genau heissen soll erfahren wir nicht. Putins Erregung – ein seltsames Bild.

Münkler will wissenschaftlich wirken, geht aber spekulativ vor. Er spricht etwa von einer “latent” revisionistischen Macht wo er keine klar erkennen kann. Er benutzt schwammige Redewendungen wie “man kann nicht ausschließen”. Und wir erfahren von seinen “Befürchtungen.” Spekulation über China dient dazu, seine Definition der Türkei als Mittelmacht zu untermauern. Diese Mittelmacht ist auch noch so frech, “eine Politik der eigenen Interessen” zu betreiben. Na sowas!

Münkler glaubt, im von ihm beobachteten Gebiet sei “Krieg inzwischen endemisch”. Und zwar “eigentlich”. Er bezeichnet den Kaukasus als “hoch fragil”. Da steht er nicht alleine. Brzezinski nannte die Gegend schon 1997 abfällig “Eurasischer Balkan”. Auch Anatol Lieven hat auf die Fragilität des Kaukasus hingewiesen (Link Lieven). Lieven stellt aber fest, dass der Einfluss Russlands hier gar nicht so schlecht sei und Alternativen fehlen würden. Münkler erkennt hier einen Raum, in dem “eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Kriegen” bestehe. Er spricht von einem Balken, der sich von Brzezinskis “eurasischem Balkan” bis zum europäischen Balkan hinziehe. Diesen Raum müssten wir “mit viel Geld und Mühe” und “über Jahrzehnte hinweg…pazifizieren”. Warum eigentlich? Und was heißt “pazifizieren”? So wie das General Custer mit den Sioux versucht hat?

Eines stellt Münkler klar fest: Das Schwarze Meer liegt in der Mitte des von uns zu beobachtenden Raumes. Soweit so gut. Bleiben wir zunächst auf dem südlichen Ufer. Dass die imperialen Mächte Europas im 19. und 20. Jh. mit willkürlichen Grenzziehungen schwelende Herde künftiger Konflikte hinterließen, ist hinlänglich bekannt. Zurecht weist Münkler auf den später missachteten Friedensvertrag von Sèvres (1919), der den Kurden einen eigenen Staat in Aussicht stellte. Revisionistisch waren danach und bis heute die Kurden, die sich damit nie abfinden konnten. Warum die Türkei nun “neo-Osmanischen” Imperialismus betreiben sollte ist aber nicht ersichtlich. Der Türkei ging es immer nur darum, einen Kurdenstaat zu verhindern. Auch die Übergriffe auf Syrien dienen nicht der territorialen Expansion sondern der Schwächung der Kurden. Imperialismus? Fehlanzeige. Die Versuche, mit Assad und Russland über die Respektierung der Grenzen Syriens zu reden, sind vernünftig. Schade nur, dass ihnen Gegenüber als “seltsame Bettgesellen” die Kurden, Al Qaeda und die USA stehen (die unterdessen in großem Umfang das syrische Erdöl klauen). Schade, dass die Kurden, ewige Opfer dieser Konflikte, wieder riskieren, von beiden Seiten verraten und niedergewalzt zu werden.

Beim Zerfall der Sowjetunion wird Münkler nun vollends wirr. Die “Probleme der Nationalstaatsbildung” waren keineswegs die größte Hürde, die Putin zu überwinden hatte, als er das Trümmerfeld Russland von Jeltsin übernahm. Auch die narrativ so praktische Gleichsetzung mit dem Zerfall Jugoslawiens hinkt.

Richtig stellt Münkler fest, dass die Zeit nach dem 1. Weltkrieg große Probleme hinterließ, weil sich “Nation und Staat (nicht) so ohne weiteres zur Deckung bringen lassen” (mein Großvater, Österreichisch-Ungarischer Konsularbeamte aus Czernowitz, wurde 1918 zum Rumänen erklärt, was er schleunigst rückgängig machte). Richtig ist, dass auch das Ende des 2. Weltkriegs Probleme hinterließ: Gelüste Polens auf Liw etwa, das es erst 1939 verlor. Ungarische Minderheiten in der Westukraine werden seit mindestens 2014 massiv von Nazi Trupps (samt Fackelmärschen und Zerstörung ungarischer Denkmäler) bedrängt. Vierzig Prozent der Ungarn, so Münkler, leben außerhalb der Grenzen Ungarns. Vielleicht erklärt das die für Westmächte mangelnde Kriegsbegeisterung Orbans?

Aber zurück zu Russland. Zu behaupten, Putin habe 2005 “die Karten auf den Tisch gelegt” und sei “auf Revisionen aus” ist mehr als gewagt: Weil es das heute vorherrschende bellizistische Narrativ zu untermauern scheint, ist diese Behauptung hochgradig manipulativ. Jeltsin hatte mit den heranwachsenden “Oligarchen” (korrupte Ex-Parteifunktionäre), ausländischen Banken und Beratern das Land ausgelaugt. Die Geldtransfers ins Ausland waren so gewaltig, dass Russland vor dem Bankrott stand. Zugleich wurde das Land systematisch erniedrigt, auch und vor allem von Obama. Zu dieser Zeit ist sehr aufschlussreich Jeffrey Sachs, der als Berater und Verfechter der Schock-Therapie Polen erfolgreich beim Übergang von Kommunismus zum Kapitalismus half. Als er dasselbe in Russland machen wollte, wurde er in Washington abgeblockt. Schon damals war klar: Russland muss zerstört werden. Auf YouTube finden sich viele Interviews mit Sachs.

Meine beste Quelle zum Übergang Russlands gibt es leider nur auf Spanisch. Rafael Poch de Feliu, La Gran Transicion, Rusia 1985 – 2002. Neuauflage Nov. 2022. Der Autor war 14 Jahre lang Korrespondent der spanischen Zeitung La Vanguardia in Moskau, hat Gorbatschow, Jeltsin und die ersten zwei Jahre Putin erlebt. Danach war er sechs Jahre lang Korrespondent in Peking.

Wenn Putin “revisionistisch” war, dann hat das nichts mit Grenzen zu tun. Er hat es bedauert, dass mehrere Millionen Russen außerhalb der Föderation leben, diese Grenzen aber nie in Frage gestellt. Die Katastrophe war die finanzielle Auslaugung Russlands im neuen Wunderreich des Kapitalismus. Die Sozialindikatoren sanken in den Jeltsin-Jahren auf den Tiefststand seit dem 2. Weltkrieg. Putin hat zunächst versucht, auf das Friedensangebot von Gorbatschow aufzubauen (dessen Wunsch einer Friedenszone von Vladivostok bis Lissabon wird heute uminterpretiert als Beweis für Imperialismus). Putin erhielt 2007 noch eine “standing Ovation” im Bundestag.

Aber Münkler hat Russland als “revisionistische Macht” definiert und setzt sich nun daran, Rezepte zu finden: “Wie pazifiziert man revisionistische Mächte?” Beim ersten Rezept des Wohlstandtransfers vergisst er schlicht, dass von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in erster Linie Deutschland profitiert hat. Die billige Energie machte Deutschland zum Export-Weltmeister und, was Münkler übersieht, zum großen Konkurrenten der USA. Man könnte hier die Frage einfügen, warum der VW-Skandal gerade dann in den USA publik wurde, als die lange marode US-Autoindustrie sich wieder erholte? Aber das ist eine andere Geschichte.

Münkler psychologisiert lieber, statt den wirtschaftlichen Bedingungen auf den Grund zu gehen. Putin sei kein homo oeconomicus, also nicht kalkülrational (sic). Aha, sind wir nun beim “Irren im Kreml” angelangt? Sogar einen fehlenden trickle-down Effekt bemüht der Autor und vergisst dabei, dass dieses Phänomen weltweit so diskreditiert ist, dass es nur noch extreme Neoliberale erwähnen. Nein, das Problem Russlands war (und ist?) die exzessive Abhängigkeit von Energie-Exporten. Wie Venezuela verließ sich Russland zu sehr auf diesen Sektor, vernachlässigte die ökonomische Diversifikation.

Geschickt nutzt Münkler gerade populäre Reizwörter, um seine These zu rechtfertigen. Etwa “Appeasement”. Hier gleitet der kundige Politologe leider ab ins Absurde. Camp David soll “Appeasement” gewesen sein? Land für Frieden? Der Vertrag gab den Sinai seinem rechtmäßigen Eigentümer zurück. Und dann entwertet Münkler auch Minsk II. Das Abkommen, das den Krieg vermeiden sollte, habe Putin “nur noch hungriger gemacht”. Der 24. Februar 2022 habe das “bewiesen”. Nun ist das Scheuklappen-Argument “Putin hat angefangen”, das jegliche rationale Diskussion verhindern soll, so kindisch, dass ich dazu nichts mehr sagen mag. Das habe ich schon, und verweise nur noch auf Maersheimer, Kennan, Matlock, Abelow u.v.a. Auch die letzten auf Wikileaks publizierten Dokumente des State Department beweisen, dass sich die USA sehr wohl bewußt waren, wie sehr sie russische “rote Linien” überschritten.

Ein absurder Absatz über die Schlacht um England soll offenbar die heutigen Waffenlieferungen an die Ukraine rechtfertigen. England hat nicht gleich nach München 1938 aufgerüstet. Die Produktion der Spitfire lief erst ab 1940 auf Hochtouren. Auch die Herstellung des Hurricane, das eigentliche Schlachtross des Battle of Britain, wurde zu spät beschleunigt. Die Schlacht im südenglischen Luftraum wurde vor allem durch Radar und exzellente Koordinierung dezentral gelegener Stützpunkte gewonnen. Und weil die Luftwaffe Anfang September 1940 aufhörte, in erster Linie die Flugplätze anzugreifen. Weil die RAF Berlin bombardiert hatte, ging Hitler aus Wut zum Flächenbombardement britischer Städte über.

Zurück zur Ukraine: Münkler behauptet, “amerikanische Sicherheitsfirmen” hätten 2014 – 2022 das Training der Ukrainischen Militärs übernommen. Wahrscheinlich waren so Firmen auch dabei. Im März 2022 meldete die BBC “frenzy in the Market”. Ex-Soldaten, die “kämpfen und töten können” würden einen Tagessatz von 2000 $ erhalten (https://www.bbc.com/news/world-us-canada-60669763). Ein wenig Recherche hätte sicher mehr ergeben über die US-Hilfe für die Ukraine. Mindestens seit 2014 laufen militärische Hilfsprogramme aus den USA. Acht Stützpunkte wurden nach NATO-Standard aufgebaut. Besucher wie die Senatoren Lindsey Graham und John McCain (auf YouTube zu finden) haben wiederholt bekräftigt, das Ukrainische Militär werde “gegen Russland kämpfen” – und sei dazu in der Lage.

Das alles unterschlägt Münkler. Noch absurder wird es im Abschnitt “Abschreckung”, der sichtlich die gegenwärtige Tunnelblick-Politik des “Wertewestens” rechtfertigen soll. Mit Hilfe eines kleinen Schlenkers zu Clausewitz behauptet er, ein Ziel Putins sei die “Ausschaltung der Ukraine als eigenständigen politischen Akteur”. Dafür gibt es keine Beweise, höchstens Zitate von extremen Kommentatoren, die dann als “Berater Putins” hochstilisiert werden (der Erfinder der Bezeichnung “Putin’s Brain” für Dugin hat dies schon zurückgezogen).

Das Spiel ist einfach: Man definiert den Gegner als “Revisionisten” und leitet dann alles von der eigenen Definition ab. Das ist intellektuell unlauter und allzu durchsichtig, wenn man nur minimal recherchiert (und selber denkt). Es sind Argumente, die sich im Kreis drehen.

Auf Münklers militärische Erwägungen gehe ich hier nicht mehr ein, sie sind zu simpel und nur dazu da, den “Herrn im Kreml” die “Kalkülrationalität” abzusprechen. Das ist keiner Antwort würdig. Leider wird in den Medien über den Krieg so viel Propaganda gepustet, dass es schwer ist, zu erkennen, was geschieht. Beim heute üblichen attention span vergisst man allzu schnell, was noch vor kurzem gesagt wurde. Der unvermeidliche Sieg der Ukraine wird aber schwächer im Narrativ. Es gibt gute Quellen: Die Generäle Vad und Kujat, der Schweizer Oberst Jacques Baud. Die US-Ex-Militärs Scott Ritter, Douglas McGregor oder Brian Berletic u.v.a. Keiner von diesen ist Putin-Propagandist.

Zum Schluss verfällt Münkler auch noch in die Numerologie. Fünf scheint für ihn eine magische Zahl zu sein. Fünf Mächte, die das Sagen haben werden. Über die multipolare Weltordnung, die heranwächst, sagt er nichts. Wie kann man aber über Geopolitik reden und neue asiatische Bündnisse vergessen. Samarkand? BRICS+? Die langsam wachsende “Dedollarisierung” der Weltwirtschaft? Es bewegt sich sehr viel auf dieser Welt. Das aber passt Münkler nicht ins Konzept. Er will nur “beweisen”, dass Putin böse ist und der allein Schuldige. Das ist Unfug.

Nun ist es gewiss traurig, dass die Kräfte, die eine neue multipolare Welt aufbauen, von nicht gerade netten Gesellen geführt werden. Wer mag schon Putin oder Xi oder Erdogan oder Modi oder die Mullahs in Teheran? Tatsächlich sind Südafrika, Brasilien und Argentinien die stärksten Kräfte der Demokratie im BRICS Verbund. Wir können das aber nur feststellen und hoffen, dass wir mäßigenden Einfluss ausüben können. Leider ist der “globale Süden” zu oft enttäuscht worden von der Doppelmoral des “Wertewestens”. Von Brandt bis Merkel hat Deutschland an der Annäherung mit der Sowjetunion gearbeitet. Diese Ostpolitik war von großem Erfolg gekrönt. Weshalb wird sie heute so geschmäht? Vielleicht weil sie gerade das anstrebte, was US-Politologen und Politiker schon seit Jahrzehnten als “größte Gefahr” für ihre einzigartige Vormachtstellung gesehen haben (Brzezinski, Friedman): Europa, und vor allem Deutschland ist zusammen mit Russland unbesiegbar. Europäische Ostpolitik, ein Russland, das sich auch mit China gut versteht und die neue Seidenstrasse, die den Warenverkehr von der Seeroute unter US-Navy Beobachtung ablenkt – all das ist für die machtbewussten Geostrategen der USA zu viel. Exceptionalism und Manifest Destiny – dafür riskieren sie auch einen Weltkrieg.

Und darin liegt die größte Lücke in Münklers phantasievollen Erwägungen: Er ignoriert die USA, den wichtigsten geopolitischen Akteur fast komplett. Wie kann man behaupten, über Geopolitik zu reden, wenn man den Elefanten im Raum einfach ignoriert?

Januar 2023