(Ein Versuch zur Klärung)


„Du bist doch Jude“

Feststellung?

Ermahnung?

Vorwurf?

Ich weiß es nicht. Warum erscheint mir der harmlose, freundlich ausgesprochene Satz so unbegreiflich unangenehm?

Es stimmt ja, ich bin Halbjude. Mein Vater war Jude, meine Mutter holländische Protestantin. Religiös war niemand in der Familie, ich bin Atheist. Na und?

Mit dem Judentum habe ich ebenso wenig am Hut wie mit andren Glaubensrichtungen.

Das wissen andere nicht unbedingt. Ich bin eben Halbjude. Aber soll ich deswegen ganz besonders entsetzt sein über den 7. Oktober? Und was war überhaupt dieser 7. Oktober, der alles folgende rechtfertigen soll?

Seit Tagen nage ich an diesem Thema. Es bedrückt mich. Ich habe zum Glück Freunde und Bekannte, mit denen ich kontrovers diskutieren kann. Ich werfe niemandem vor, anderer Meinung zu sein, ich will niemanden bekehren. Ich schreibe, weil ich versuche, zu verstehen. Ich will nicht mehr als – wie das jemand aus meiner Twitter-Blase so schön formulierte – meine Analysen und Recherchen anbieten. Ich freue mich, wenn jemand etwas davon hat. Mehr nicht.

Also versuche ich wie immer erst einmal herunterzukommen von der emotionalen Ebene. Und wie immer versuche ich, mich auf Fakten zu konzentrieren.

Klarheit über den eigenen Standpunkt ist aber wichtig, will man objektiv sein. Denn eine abstrakte, allgemeingültige Objektivität gibt es nicht. Wir sind immer durch zahlreiche Faktoren beeinflusst, gebildet. Ich muss wissen, wo ich stehe, um meine Einschätzung formulieren zu können.

Also vorweg meine Meinung nach einem Jahr seit dem 7. Oktober: Die Streitkräfte Israels verüben dort den brutalsten Genozid seitdem Pol Pot nach 1975 über 1,5 Millionen Bürger Kambodschas umbringen ließ. Und nein, ich habe Darfur nicht vergessen, wo nach 2003 rund 200’000 Menschen umgebracht wurden. Diese Zahl dürfte in Gaza laut The Lancet bald überschritten werden (https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(24)01169-3/fulltext). Wer systematisch Krankenhäuser, Schulen und Universitäten dem Erdboden gleichmacht übt kein Recht auf „Selbstverteidigung“ aus. Wer Krankenhauspersonal, Uno-Angestellte und Journalisten gezielt ermordet, schützt sich nicht vor einem gefährlichen Feind. Wer Menschen zur Flucht antreibt, nur um sie dann im angeblichen Zufluchtsgebiet in ihren Zelten zu bombardieren begeht vorsätzlich Kriegsverbrechen. Und wir, der Rest der Welt, gucken einfach zu. Schlimmer noch: Wir unterstützen den Völkermord diplomatisch und ganz konkret mit Waffen. Und unsere Medien spiegeln uns einen irrealen Konflikt vor, in dem es nur ein wirkliches Opfer gibt. Wer auf die andere Seite hinweist ist „Antisemit“ – ein schändlicher Missbrauch des Wortes. Die Tagesschau berichtet etwa genau über vier gefallene israelische Soldaten. Über die 54 oder 79 am selben Tag getöteten Palästinenser schweigt sie sich aus.

Das macht mich krank.

Ich versuche, mein Entsetzen und meinen Ärger zu drosseln. Analyse bedarf Abstand.

Es geht zunächst um Narrative, um Geschichten und wie sie erzählt werden.

Und es geht um Geschichte. Ja,wir müssen aus ihr lernen. Aber wir dürfen sie nicht missbrauchen.

Zunächst zu den Ereignissen vom 7. Oktober 2023.

  • Geköpfte Babies? – Fehlanzeige
  • Babies im Ofen – Fehlanzeige
  • Vergewaltigungen – Fehlanzeige
  • Abgeschlachtete Konzertbesucher? – Wahr. Aber durch wen?
  • Entführung von Zivilisten? – Wahr. Kriegsverbrechen

Die Propaganda lief auf Hochtouren. Es ist ein altes Grundprinzip der Hetze, mit Gräuelgeschichten Emotionen hochzujagen, um Analyse zu verhindern. Zwar kommt später heraus, dass es etwa in Belgien keine „auf deutschen Bajonetten aufgespießte Babies“ gab (1917 in US-Medien); dass in Kuwait 1990 keine Irakischen Soldaten Babies aus Brutkästen griffen und zerschmetterten; oder eben, dass es am 7. Oktober 2023 keine geköpften oder im Ofen verbrannten Babies gab.

Zivilisten zu erschießen und zu entführen war ein Verbrechen, ohne Zweifel. Und das zu relativieren heißt keineswegs, es zu entschuldigen. Aber eine Einordnung ist notwendig, weil das Geschehen als Ausrede missbraucht wird, als Rechtfertigung für Völkermord. Denn hier geht es nicht um Selbstverteidigung.

Fragen wir uns zunächst, wo die Geschichte anfängt. Politik und Medien tun so, als wäre der 7. Oktober der Anfang allen Übels gewesen (Über die Bedeutung des Auftakts einer Geschichte dieser wunderbare TED-Talk von Chimamanda Ngozi Adichie: https://www.youtube.com/watch?v=D9Ihs241zeg).

Zur Vorgeschichte:

  • Seit 1948 werden Palästinenser systematisch von Zionisten massakriert. Gewiss ermordeten auch Araber jüdische Siedler. Aber die Versuche, dies als eine Art Gleichgewicht des Terrors darzustellen sind schlicht Geschichtsfälschung. Der Israelische Historiker Ilan Pappe schlüsselt das genau auf in „Die Ethnische Säuberung Palästinas“. Versuche, ihn als „umstritten“ zu diskreditieren sind lächerlich. Pappes Quellen sind eindeutig, bis hin zu den Tagebüchern des „Landesvaters“ David Ben Gurion. Die planmäßige Sprengung von Dörfern fing 1948 mit der Staatsgründung an, wurde immer wieder in der illegal besetzten West Bank fortgesetzt und erreicht heute im Libanon einen erneuten Höhepunkt.
  • Ein großer Teil der Opfer in Gaza sind Kinder. Das ist seit Jahren Politik der Israelischen Streitkräfte, denn Palästina darf keine Zukunft haben: https://twitter.com/sarayafi/status/1750506900163363049?s=12&t=2nBm-SJktQZVlhrJU0m42g
  • Der israelische Journalist Gideon Levi beschreibt knapp und brillant, wie Israelis die Brutalität ihres Regimes rechtfertigen: 1. Sie sind das auserwählte Volk. 2. Sie dürfen als Holocaust Opfer alles tun, was sie wollen. 3. Sie entmenschlichen die Palästinenser. https://www.youtube.com/watch?v=JZTOy9epq2Y.
  • Laut internationalem Recht haben Palästinenser das Recht, auch bewaffnet gegen die Besatzer (also Israel) vorzugehen. Israel wurde schon über 140 Mal von der Uno kritisiert, alleine bis 2013 gab es 45 Resolutionen vom Uno-Menschenrechtsrat gegen Israel. (https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_United_Nations_resolutions_concerning_Israel )
  • Der Geheimdienst Israels wurde am 7. 10. nicht überrascht. Israel kannte die Pläne der Hamas seit über einem Jahr: https://www.nytimes.com/2023/11/30/world/middleeast/israel-hamas-attack-intelligence.html. Man ließ es geschehen, um dann brutal zurückschlagen zu können. Genozid in Gaza war das Ziel.

Zum Ablauf des 7. Oktober:

  • Obwohl theoretisch nicht mehr gültig, war an jenem Tag die Hannibal Doktrin in Kraft. Die besagt, eher die eigenen Leute umzubringen als Geiselnahmen zuzulassen. Die Einschüsse in Siedlungen waren von großem Kaliber, von Israelischen Panzern.
  • Die Autowracks von den Musik-Festival Besuchern beweisen, dass auch diese mit großem Kaliber zerstört wurden. Das haben die Piloten der Apache-Kampfhubschrauber bestätigt.
  • Dem Israelischen Heer IDF gelang es nicht, die gut verschanzten Hamas Kräfte direkt zu bekämpfen; es setzte von Anfang an großflächige Bombardements ein. Diese Kriegsverbrechen vertuschen sie, in dem sie Hamas beschuldigen, alle anderen Palästinenser als „menschliche Schilde“ zu benutzen.
  • Ausländische Journalisten dürfen nicht oder nur sehr begrenzt nach Gaza. Die Palästinensischen Reporter werden von der IDF gezielt ermordet.

Und so sehr wurde Gaza zerbombt:

Dazu unsere Medien:

Die Berichterstattung über den Gaza-Konflikt kann man nur noch als Propaganda bezeichnen. Die von der Regierung propagierte Leugnung des Genozids wird nicht angefochten. Ebenso wenig gibt es Kritik an der diplomatischen Unterstützung Israels gegen die Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof. In alternativen Medien oder auf Plattformen wie X sieht man täglich die Auswirkungen des Völkermords in Gaza – zerfetzte Kinderleichen, zerbombte Krankenhäuser, absichtlich gesprengte Schulen und Universitäten, die Auslöschung ganzer Stadtteile. Das alles wird ignoriert. Die Tagesschau scheint mir Vorliebe Meldungen der IDF eins zu eins zu übernehmen.

Der Politik- und Islamwissenschaftler und Journalist Fabian Goldmann nennt die Berichterstattung über den Konflikt „Systemversagen“ und hat sie auf seinem Blog analysiert: https://www.schantall-und-scharia.de/medien-nahost-anatomie-katastrophe/

Diese Arbeit ist sehr gründlich, ich kann dazu nichts hinzufügen.

Ich empfehle allen, die gerne Leitmedien oder öffentlichen Rundfunk genießen, das zu lesen.

Was tun? Ich weiß es nicht, es ist zum verzweifeln.

Mich erschreckt, wie sehr sich auch kritisch denkende Menschen mitreißen lassen vom Strom der Propaganda. Immer wieder fallen sie zurück auf zweifelhafte oder irrelevante Analysen. Ist es wirklich wichtig, wie viel Juden im „gelobten Land“ lebten bevor die Araber da hinkamen? Sollen Christen nun auch Wohnrecht fordern, weil Kreuzritter sich 200 Jahre lang dort in Festungen fest krallten? Warum wird dem 13. Jahrhundert mehr Bedeutung gegeben als dem 19. Jahrhundert? Der Israelische Historiker Shlomo Sand hat in „Die Erfindung des Jüdischen Volkes“ den Mythos des vertriebenen und nun „heimkehrenden“ Volkes gründlich entkräftet.

Zionisten, die keineswegs mit Juden gleichzusetzen sind und von vielen Juden weltweit bekämpft werden, schrieben schon in den 1880er Jahren von der notwendigen Vertreibung der Araber. Diese Forderung wurde zu einer Konstante in der Geschichte Palästinas – bis heute. Als die Briten nach dem 1. Weltkrieg Palästina als Uno-Mandat übernahmen lebten dort unter 10 Prozent Juden friedlich mit ihren Palästinensischen Mitbürgern zusammen.

Einwanderung war und ist die einzige Überlebenschance Israels. Noch heute ruft die Netanyahu-Regierung Juden in aller Welt dazu auf, in den angeblich „einzig sicheren Ort für Juden“ zu ziehen. Obwohl sie zündeln und einen Krieg mit Iran anstreben. Siehe auch dazu das Zitat von Gideon Levi (https://www.youtube.com/watch?v=JZTOy9epq2Y).

Stolz zeigen Israelis auf einer Landkarte, wie Groß-Israel auszusehen habe. Heute lässt Netanyahu den Libanon und Syrien bombardieren: Nächster Schritt des Eroberungskrieges? Und in Gaza wirbt Israel Investoren an, die dort gute Immobiliengeschäfte machen sollen. Noch bevor sich der Staub von den Bombardierungen gelichtet hat, preisen die Werber den Meeresblick an, den man dort wird genießen können. Die ethnische Säuberung Nordgazas ist beschlossene Sache. Und das Narrativ vom Extremisten Netanyahu, der an allem alleine schuld sein soll, hält keiner ernsthaften Analyse stand. Netanyahu würde, so Nahost-Experte Michael Lüders, auch heute Wahlen haushoch gewinnen (https://www.youtube.com/watch?v=iS9Wze8YSaI).

Und was machen wir? Deutschland unterdrückt unliebsame Information durch ein Gesetz, das alle, die sich auch nur halbwegs kritisch über den Gaza-Konflikt äußern, als Antisemiten strafbar macht. Was heißt übrigens hier Konflikt? In Gaza gibt es längst keinen Konflikt mehr. Israel führt einen gezielten Genozid durch. Uno-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese nennt das „Genozid als Koloniale Auslöschung“ (https://www.un.org/unispal/document/genocide-as-colonial-erasure-report-francesca-albanese-01oct24/)

Kann es sein, dass ich mich nach dem neuen Gesetz mit diesem Artikel strafbar mache? Ist das möglich in einer Demokratie? Wird Artikel 5 GG so sehr eingeschränkt, dass er wirkungslos wird?